Prinzessinnenjungs. Wie wir unsere Söhne aus der Geschlechterfalle befreien.

Als ich 2010 zum ersten Mal ein Buch über Jungenarbeit in die Hände bekommen hatte, war der Moment des Lesens ein Augenöffner für mich. Das Buch von Dieter Schnack und Rainer Neutzling »Kleine Helden in Not. Jungen auf der Suche nach Männlichkeit« sprach mir so sehr aus der Seele, dass ich begann all meine Denkmuster zu überdenken und zu verwerfen. Zehn Jahre später erscheint das Buch »Prinzessinnenjungs« von Nils Pickert. Er schreibt über Jungen, über Männer und ihren schwierigen Weg zur eigenen Männlichkeit. Es geht um Liebe, Freundschaft, Sexualität, um Verantwortung und vor allem immer wieder um Gewalt. Ein Prinzessinnenjunge ist mehr als ein Junge, der Frauenkleider trägt oder in einer Geschlechterfalle steckt. Das Buch legt den Finger dabei in eine vermeintlich kleine Wunde, die beim Lesen jedoch Schmerzen, Wut und Tränen auslösen. Zumindest bei mir. Das Buch ist eine bittere Analyse und Appell für eine andere, gesündere Sichtweise auf männliche Sozialisation. 

Wann ist ein Mann ein Mann?

Nils Pickert schreibt, dass Männlichkeit, wie wir sie kennen, ein Verkaufsschlager sei. Und er begründet dies auf anschauliche Art und Weise, in dem er immer wieder eigene Erfahrungen einbringt und sich persönlich und privat ein gutes Stück den Lesenden offenbart. Nicht erst auf dem Schulhof, wo Jungs ihre Zugehörigkeit zur Gruppe über den binären Code »ficken oder gefickt werden« aushandeln, werden die tradierten und geschlechtsstereotypen Rollenbilder gefestigt. Auf 254 Seiten wird sehr schön herausgearbeitet, dass psychische und physische Gewalt auf Jungen und Männer ausgeübt wird und das Rollenbild geprägt und gefestigt wird. Jungs werden von ihren Gefühlen und ihrer Verantwortung getrennt, sie kreisen um sich selbst und ihnen fehlt die Fähigkeit, Gefühle zu offenbaren. Dieses System wird nicht nur von fremden ausgeübt, sondern auch von Vätern, Müttern und dem familiären Umfeld gestützt und unterstützt. Sozialisation als Geschlechterfalle, aus der es sich schwer befreien lässt. Nils Pickert fordert daher, dass wir endlich anfangen müssen, über gelingende Männlichkeit zu sprechen und aufhören uns einzureden, dass sich Männlichkeit unverändert von selbst ergibt.

Das Kapitel „Gewalt ist (k)eine Lösung“ endet mit dem Satz: „Jungen und Männer sind auch Opfer von Gewalt.“ Und würde dieser Satz an erster Stelle des Kapitels stehen, er hätte eine ganz andere Wirkung auf den Inhalt. Framing halt. Gewalt wird Männern zugeschrieben und ausgeübt. Männlichkeit unterliegt der Initiation von Brechen und Gebrochenwerden. Um also ein richtiger Mann zu werden, muss Gewalt an dir ausgeübt werden und du musst Gewalt ausüben. Wenn du dies nicht tust, bist du schwul. Du wirst gefickt und hast nicht die Macht. Du bist kein Ficker. Und schon sind wir gefangen im gesellschaftlichen Denken über Macht=Männlich und Schwäche=Weiblich. Nils Pickert zitiert eine Statistik, die besagt, dass Männer zu 18% Opfer sind und zu 80% Täter. Er benennt alltägliche Beispiele, die nahezu jeder Mann aus eigener Erfahrung berichten kann. Von nassen Handtüchern, die eingedreht zu Peitschen werden und in der Umkleide nach der Schwimmunterricht für Striemen und Schmerzen sorgten. Ja, auch das ist Gewalt und ja, sie wird nach wie vor bagatellisiert. Männer werden erniedrigt und vorgeführt, verspottet und so zu richtigen Männern geschliffen. Gehörst du nicht dazu, wirst du aussortiert, ausgegrenzt und als Schwuchtel abgestempelt.

Antifeminismus

Nur kurz und an wenigen Stellen geht Nils Pickert auf die Argumente der antifeministischen Männerrechtsbewegung ein. So beschriebt er das Verhalten von Männern, die sachliche Diskussionen über Geschlecht, Rollenbilder, Sozialisation stören indem sie versuchen, die Diskussion hin zu Männerthemen zu ziehen. Klassischer WHATABOUTISM, also „Männer sind auch Opfer!“ Gleichzeitig beschriebt er, dass die Maskulinisten eine Verweiblichung der Gesellschaft befürchten und »echte Männer« zu kurz kommen und die stereotypen Männlichkeitsbilder zu wenig Beachtung finden. Völlig richtig beschriebt Nils Pickert, dass es gar nicht darum geht, das Verhalten von Jungen und Mädchen umzupolen und gesellschaftlicher zu machen.

„Wir werden uns aber nur dann originäre, wirkmächtige und hilfreiche Jungen- und Männerarbeit leisten können, wenn wir einsehen, dass Frauen und Mädchen nicht unsere Feindinnen sind.“

Nils Pickert

Gegessen wird zu Hause

Männer sind Helden und werden in Geschichten als Helden gefeiert und somit reproduziert. Jungen müssen sich aber auch ständig beweisen, gehen in einen Konkurrenzkampf. Nils Pickert beschreibt anschaulich, dass ihr Repertoire an Emotionen und Gefühlen dabei verkümmert. Männer schreien verzweifelt nach Aufmerksamkeit und ihre Bedürfnisse werden nicht gehört, geschweige denn können befriedigt werden (und das nicht im sexuellen Sinne). Es geht also um Liebe, die den Jungen einprogrammiert wird: Sei ein Held. Frauen werden in dieser Konstellation zum Objekt degradiert. Mich erinnern die immer wiederkehrenden Beschreibungen über Liebe, Freundschaft und Sexualität an meine Jugend im Münsterland. Dort heißt es: „Appetit holen darfst du, gegessen wird aber zu Hause.“ Nils Pickert fordert zurecht, dass wir anfangen müssen, Männlichkeit besser zu erzählen und besser vorzuleben.

„Wir können Frauen und Mädchen nur dann vor Gewalt schützen, wenn wir anfangen, Jungen und Männer zu schützen. Nicht vor sich selbst.“

Nils Pickert

Große Bedeutung legt Nils Pickert daher auch den Vätern als Träger der Rollenbilder. Väter müssen mit Liebe antworten, präsent sein, aktiv sein und auch Zweifel zeigen. Zugewandte, sich kümmernde Väter, die auch emotional im Leben ihrer Söhne präsent sind. Dann können wir uns auch von dem Gedanken verabschieden, dass sich Homosexualität durch „weibliche Verhaltensweisen“ äußert.

Hotel Mama

In meiner Jugend haben junge Frauen noch Mitgiften gesammelt, die sie als Aussteuer in die Ehe mitbringen. Der Mann zieht also von einem Hotel zum nächsten Hotel und wird Statist im eigenen Leben. Was platt und einfallslos daher kommt, wird von Nils Pickert im Kapitel „Hotel Mama“ wunderbar dargelegt. Irgendjemand ist im Leben des Mannes für ihn da und übernimmt die Verantwortung. Gemeint sind Mutter, Ehepartnerin, Haushälterin, Grundschullehrerin, Babysitterin und viele weitere Care Berufe, in denen vor allem emotionale Arbeit geleistet wird. Irgendjemand ist immer zuständig. Nils Pickert schreibt richtig, dass Männer im Hotel Mama nur Gast sind und somit die Statisten ihres eigenen Lebens. Es wird für sie und um sie herum gesorgt. Sie fühlen sich nicht zuständig und werden nicht zuständig gemacht. Weder in ihrer Sozialisation noch später im eigenen Haus. Nur kurz wird auf »Mental Load« und die Unfähigkeit der Männer eingegangen, sich aus dieser Falle zu befreien. Wohingegen gleichzeitig auch die Ursache dargelegt wird. Es wird ihnen aufgrund der gesellschaftlichen Rollenverteilung auch nicht anders beigebracht. Folgerichtig fordert Nils Pickert, „…dass es sich lohnt, im eigenen Leben nicht nur Gast zu sein, bei den Kindern nicht bloß für Betreuungsdienste einzuspringen und im eigenen Haushalt nicht lediglich auszuhelfen.“

Fazit

Mit »Prinzessinnenjungs« ist Nils Pickert ein starkes Erstlingswerk gelungen. Mit Erfahrungsberichten aus seiner Kindheit und Jugend gelingt es ihm sowohl sachlich als auch emotional die Lesenden für das Thema zu gewinnen. Doch nicht nur die Beispiele lösen Wut und Mitgefühl aus. Mich hat vor allem die Gewalt der männlichen Sozialisation schockiert, obwohl ich jedes Wort und jede Erfahrung mit meiner eigenen männlichen Sozialisation teile. Mich hat das Buch sehr bewegt und für Tage beschäftigt. Nils Pickert gelingt es, die Lesenden nicht für ihr Tun und Handeln zu verurteilen, sondern liebevoll an die Hand zu nehmen und Perspektiven und Lösungsvorschläge anzubieten. Auch ihm gelingt es nicht immer der Vater zu sein, der er gerne sein möchte. Das macht das Buch und den Autor so nahbar. Im letzten Kapitel entlässt Nils Pickert die Lesenden mit einer kleinen Handreichung zu Prinzessinnenjungs. Geschlechtsidentität muss frei ausgelebt werden können, Männlichkeit darf kein Identitätskamp sein, wir müssen eine Anwaltschaft für Jungen und Männer übernehmen, Vaterschaft muss transformiert werden, Männer müssen Verantwortung übernehmen, Scheitern ist integraler Bestandteil von Männlichkeit.

„Die tatsächliche Alternative besteht darin, Jungen und Männer zu befähigen, den Unterschied zwischen Privilegien und Freiheiten zu erkennen, um sich für das Richtige zu entscheiden.“

Nils Pickert

Dieses Zitat erinnert mich an den Film »We Want Sex«, in dem die Protagonistin zu ihrem Ehemann sagt: „Rechte sind keine Privilegien!“ Nils Pickert greift im Grunde diesen Satz auf uns appelliert an die Verantwortung des Mannes, nicht Opfer seiner Männlichkeitsvorstellung zu sein und sein Recht auf freie Entscheidung wahrzunehmen. Männer dürfen lange Elternzeit nehmen, sie dürfen weinen, sie dürfen den Job kündigen, sie sind frei in ihrem Tun und Handeln!Zum Nachdenken hat mich dann der fünfte Punkt gebracht: Heldinnen. Nils Pickert fordert auf, den Boy´s Club aufzulösen und den Blick für Frauen zu öffnen. Wer sind meine Heldinnen? Warum sind das meine Heldinnen? Wir sollten mehr darüber reden. Tatsächlich sind mir keine Heldinnen eingefallen. Stattdessen viele Helden. Das beschäftigt mich nach wie vor. Denn es zeigt, wie perfide, gewaltvoll und latent die männliche Sozialisation funktioniert. Aber was ist denn jetzt eigentlich ein Prinzessinnenjunge? Nun, dafür musst du das Buch lesen. Es lohnt sich!

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