Die Vier-in-einem-Perspektive von Frigga Haug

Neulich telefonierte ich mit einem Freund aus Hamburger Zeiten. Damals arbeitete ich noch in der Werbung. Wir sprachen über unsere Familien, den Job und natürlich über Corona. Erwerbsarbeit, Familienarbeit und Ehrenamt unter einen Hut zu bekommen, ist nicht nur in der Krise eine Herausforderung. Die aktuellen Ereignisse zeigen uns aber deutlich, wie sehr Frauen in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt werden und die größte Last zu tragen haben. Neue Gesellschaftsmodelle müssen her!

Er ist mit 40 Stunden in einem mittelständischen Familienunternehmen beschäftigt, ich manage meine beiden Kinder und den Haushalt. Ich bin Hausmann. Wir blicken also aus zwei unterschiedlichen Perspektiven auf die aktuelle Situation und kommen sehr schnell auf »New Work«. Es ist eines dieser Modelle, das zurzeit in aller Munde ist. Darüber hatte ich auch schon einmal an anderer Stelle geschrieben. Nun möchte ich dir mit der 4-in-1-Perspektive von Frigga Haug eine andere Überlegung auf Erwerbsarbeit, Care-Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe vorstellen.

4-in-1-Perspektive

Im Fokus von Frigga Haugs »Vier-in-einem-Perspektive« steht die Utopie einer gerechten Verteilung von Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Gemeinwesensarbeit und Entwicklungschancen. Sie beschriebt in einem Aufsatz, dass Geschlechterverhältnisse immer auch Produktionsverhältnisse sind. Frauen haben sich in den letzten Jahrzehnten ihre Rechte erkämpft: Sie dürfen wählen, arbeiten und selber entscheiden, mit wem sie verheiratet sein wollen. Sie müssen nicht mehr den Haushalt schmeißen und können Karriere machen. Trotzdem gibt es nach wie vor eine krasse Ungleichheit und Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern – auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Bezogen auf die Erwerbsarbeit sind Frauen entweder in der Lebensfürsorge (Pflege, Erziehung) oder im Lebensmittelbereich (v.a. Einzelhandel) tätig. Gleichzeitig wird ihnen in allen anderen beruflichen Kontexten die Reproduktionsarbeit zugeschrieben, also die Erziehungs- und Sorgekompetenz.

„Diese hierarchische Anordnung bildet die Grundlage für die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen, die sämtliche Sphären der Gesellschaft prägt: Kultur und Sprache, Ideologie und Sozialtheorie, Moral und Recht und die entsprechenden Institutionen.“

Frigga Haug

Frigga Haug beschreibt in ihrem Leitfaden für die Politik zwei Herrschaftsarten, die es zu überwinden gibt. Zum einen die Verfügung über Arbeitskraft in der Lebensmittelproduktion und zum anderen die Verfügung der Männer über die Frauen in der Reproduktion. Gesellschaftlich gibt es Frauenrechte, aber strukturell und kulturell finden sie nicht statt. Sie äußert feministische Kritik an der gegenwärtigen Geschlechterpolitik, die am Status Quo festhält. Es kann nicht einfach um »Gleichstellung« gehen, sie stellt die Struktur selbst in Frage. Das macht sie an der Stellung der Frau in Kultur und Gesellschaft fest, aber auch an der Zuweisung an den Reproduktionsbereich (Hausfrau und Mutter).

Es geht um eine knappe Ressource

Bevor wir in das Erwerbsleben starten, haben wir viel Zeit. Mit dem Eintritt in eine abhängige Lohnarbeit wird jedoch über unsere Zeit bestimmt. Es gibt eine*n Vorgesetzte*n, wir sind Arbeitnehmer*innen. Wir gehen morgens zur Arbeit und abends wieder nach Hause. Dank der im letzten Jahrhundert stattfindenden Arbeitskämpfe haben wir heute mehr Zeit. Frigga Haug beschreibt die Kämpfe für einen 8 Stunden Tag, die 5 Tage Woche und letztendlich die 37,5 Stunden Woche. Immer ging es um Zeit. Doch seit 1989 weht ein neoliberaler Wind, der seinen Höhepunkt in der Agenda 2010 um Kanzler Schröder mit den Hartz-Reformen hatte. So gibt es Menschen, die aus dem Erwerbsleben herausgenommen werden, weil sie nicht hinein passen. Diese Menschen bekommen Hartz IV. Gleichzeitig haben sich aufgrund des technischen Fortschrittes die Produktivkräfte der Arbeit so gewaltig potenziert, dass die Halbierung der heutigen Erwerbsarbeitszeit anstünde. Bei gleichem Gehalt. Dafür nimmt sie auch die Gewerkschaften in die Pflicht. So lange diese für den Erhalt von z.B. Arbeitsplätzen im Bergbau und gegen eine Weiterentwicklung von Arbeit kämpfen, wird sich nichts ändern.

Frigga Haug möchte die „Produktionsverhältnisse“ aus ihrer Zentriertheit auf die gewerbliche Produktion holen und auf beide Bereiche der menschlichen Produktionen beziehen. Gleichzeitig plädiert sie für eine Teilhabe an diesem Diskurs. Menschen müssen beteiligt werden, sowohl als Befähigung und Weiterentwicklung ihrer persönlichen Kompetenz, als auch im politischen Diskurs. Das Internetzeitalter und die Globalisierung führen ihren Ausführungen nach zu immer währenden „Lernzeiten“, die Zeit fressen um kulturelle Fähigkeiten zu entwickeln.

„Die Sprengkraft wächst dieser Umstrukturierung dadurch zu, dass sie auf den Herrschaftsknoten unserer Geschichte zielt: Die zerlegende Organisation des Gesellschaftsprozesses — in den profitgetriebenen Ewerbsbereich, den ›verweiblichten‹ Reproduktionsbereich jenseits der Lohnform, die abgesonderte Politik in den Händen von ›Stellvertretern‹ — festigt die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse um den Preis der Verkümmerung und Vergeudung menschlicher Talente. Diese Verknotung von Herrschaftsverhältnissen aufzulösen, ist das Projekt der 4-in-1-Perspektive.“

Frigga Haug

Menschen mit einbeziehen

Erwerbsarbeit, Reproduktions- oder besser Zuwendungsarbeit (Care Arbeit), kulturelle Selbstentwicklung und Politik dürfen nach Frigga Haug nicht getrennt verfolgt werden, sonst geraten sie in eine Sackgasse. Dabei geht es ihr nicht einfach nur um Arbeitszeitverkürzung, sondern um eine Umverteilung der gesamten Lebenszeit und aller Tätigkeiten. Das Neue der 4-in-1-Perspektive besteht daher in der Anordnung der vier Tätigkeitsbereiche — Erwerbsbereich, Reproduktionsbereich, Kultur, Politik — auf zeitlich gleicher Ebene, statt sie einander über- und unterzuordnen. Menschen hätten weniger Stress in der Erwerbsarbeit, mehr Zeit für ihre Familie, könnten sich stärker weiterentwickeln und politische Prozesse stärker als sonst aktiv mitgestalten. Die Vorteile liegen dabei klar auf der Hand.

Die spontane Geringschätzung der Reproduktionstätigkeiten als ›nicht wirklich Arbeit‹ wird in Wertschätzung umschlagen, sobald sie Teil des eigenen Lebens sind. Den Freiraum für die Entwicklung seiner selbst zu erstreiten arbeitet gegen die permanente sektorale Einspannung.

Mein Hamburger Freund und ich sind uns einig. Wir sind auf dem richtigen Weg. Er hat seine Arbeitszeit reduziert und ich werde in den kommenden Wochen wieder mehr Zeit für persönliche Selbstentfaltung haben. Letztendlich geht es doch darum, ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen.

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